Dienstag, 4. Januar 2011

2. Keine Eulen nach Athen

Stellen Sie sich vor, Sie wären Mitglied im Verband der Gehwegreinigungsunternehmen Schleswig-Holsteins (GRSH). Das hieße: Sie hätten es seit Wochen mit Schnee und Eis auf den Bürgersteigen zu tun, die Sie im Kundenauftrag räumen und streuen müssen; Sie hätten Mühe, das erforderliche Streusalz zu beschaffen, und es fielen auch schon die ersten Maschinen aus, weil sie überansprucht sind und die Ersatzteile knapp werden. Sie wissen also nicht, wo Ihnen der Kopf steht.

Aber zur Jahreshauptversammlung Ihres Verbandes gehen Sie doch, denn dort tritt der Wirtschaftsminister als Gastredner auf, und Sie möchten gerne hören, was er zu sagen hat. Und dann kommt der Minister auch und hält seine Rede: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, die 123 Mitglieder Ihres Verbandes haben es zurzeit nicht leicht. Auf den 2375 Kilometer Gehweg, die sie zu reinigen haben, liegt seit viereinhalb Wochen Schnee, und an 17 Tagen war es auch noch glatt. Deswegen ist inzwischen das Streusalz knapp und fallen die ersten Maschinen aus, weil sie überlastet und Ersatzteile kaum noch zu bekommen sind..."

Diesen Verband gibt es natürlich nicht, aber solche Redemanuskripte durchaus. Das ist ärgerlich für die Zuhörer: Man hat sich die Zeit genommen, um dahin zu fahren, und dann wird einem etwas vorgetragen, was man selbst besser weiß. Redetexter tragen allzu oft Eulen nach Athen, weil für sie der Stoff neu ist und sie dabei vergessen, dass für das sachkundige Publikum das Gegenteil gilt. Man recherchiert, was die Grunddaten und die aktuellen Probleme eines Verbandes sind, und formuliert daraus eine Rede. Diese Recherche muss sein, damit man überhaupt Bescheid weiß. Aber der Redestoff ist das noch nicht.

Besonders bei einem homogenen Publikum wie auf einer Verbandsversammlung ist es höflich, wenn der Redner das Publikum spüren lässt: Ich habe mich mit eurer Situation beschäftigt, ich weiß, wie es euch geht! Aber das ist etwas ganz anderes, als den Inhalt der Verbandshomepage vorzutragen. Dann fühlt sich die Zuhörerschaft im besten Fall gelangweilt, wahrscheinlich aber schlecht oder gar despektierlich behandelt, und so etwas hängt dem Redner lange nach.

Nachdem die verfügbaren Informationen zusammengetragen und sortiert sind, fängt die eigentliche Arbeit des Redenschreibens erst an: Welche Fragen ergeben sich, zum Beispiel an den zuständigen Minister, und worauf erwartet das Publikum Antworten? Wo sind Konflikte und wie stehen wir dazu? Was können wir der Gruppe, die da sitzt, bieten? Was wollen wir von ihr fordern? Wie lässt sich das, was da anzusprechen ist, in einen übergeordneten Zusammenhang stellen? Nun ist zu entscheiden, welche Punkte man in welcher Reihenfolge behandeln, welche man kurz erwähnen und welche man weglassen möchte, und schon ergibt sich eine tragfähige Gliederung.

Dann muss man sie nur noch mit plausiblen Argumenten, klugen Gedanken, klaren Formulierungen, lebendigen Bildern, unterhaltsamen Episoden, spannenden Passagen und treffenden Pointen füllen und dabei immer an Mark Twain denken: "Eine gute Rede hat einen guten Anfang und ein gutes Ende - und beide sollten möglichst dicht beieinander liegen."