Montag, 17. Januar 2011

4. Die entscheidende erste Minute

Glücklicherweise ist eine Rede kein Roman. Da kann der erste Satz schon das Schicksal besiegeln. Aber auch für einen Redner hängt viel vom Anfang ab. Wenn wir einem Menschen zum ersten Mal begegnen, bilden wir uns innerhalb von 60 Sekunden ein Urteil, sagen Wissenschaftler. Mehr Zeit hat auch ein Redner nicht, um dafür zu sorgen, dass die Anwesenden sich nicht dem Nachbarn oder dem Blackberry zuwenden.

60 Sekunden, das sind über den Daumen gerade einmal 90 Worte. Wie weckt und hält man die Aufmerksamkeit des Publikums? Es kommt immer darauf an, zu welchem Anlass eine Rede gehalten werden soll, ob es sich um eine Festansprache handelt oder um eine Gedenkrede, ob der Vortragende der "Keynote-Speaker" oder der Lobredner ist, ob die Hauptversammlung einer Volksbank, die Besuchermassen eines Stadtfestes oder die Mitglieder einer Volksvertretung das Publikum sind.

Deshalb gibt es auch hier keine Patentrezepte; der Redenschreiber muss sich etwas einfallen lassen, das zum Anlass und zum Redner (!) passt. Aber es gibt ein paar bewährte Einstiegsmethoden. So kann man Bezug auf den Veranstaltungsort nehmen. Ein Amtsträger aus Scheswig-Holstein begann eine Rede in Hamburg so: "Man möchte als Schleswig-Holsteiner Hamburg ein Kompliment machen. Was kann ich sagen? Ich schließe mich Gerhart Hauptmann an: 'Man nenne mir eine zweite, ebenso große deutsche Stadt, deren Funktion und Form so übereinstimmen'." Hier ist gleich noch ein Zitat verwendet worden. Auch damit kommt man mitunter gut in eine Rede hinein. 

Oder ein Minister aus Schleswig-Holstein wirbt in Augsburg für die maritime Wirtschaft. Dann könnte er damit anfangen, dass es ein Schwabe war, der bei der Kieler Traditionswerft HDW das erste U-Boot in Auftrag gab. Schon eine schnelle Internet-Recherche bringt oftmals erstaunliche Informationen, aus denen sich ein interessanter Auftakt entwickeln lässt.
Manchmal fällt das Rededatum auf ein Jubiläum, das zum Anlass passt. Ein Witz oder eine Anekdote können ebenfalls zum Thema hinführen. Oder man stellt einen persönlichen Bezug des Redners zum Veranstalter bzw. Thema her. Bundeskanzlerin Merkel begann bei der Feier zum 100jährigen Bestehen des Evangelischen Pressedienstes (epd) mit Bemerkungen darüber, wie sie sich selbst in diesem Medium dargestellt fand.

Alles ist möglich, wenn es zu den Umständen passt, wenn es unterhaltsam und leicht zu verstehen ist, wenn es einen gewissen Esprit vermittelt, der den Zuhörer auf den Hauptteil der Rede neugierig macht. Originell, überraschend, erfrischend - alles darf der Einstieg sein, nur nicht so weit hergeholt, dass das Publikum denkt: Na, da hat der Redenschreiber aber lange gesucht...

Besonders gut kann man bekanntlich von schlechten Beispielen lernen. Da kommt Kurt Tucholskys Ratschlag für schlechte Redner gerade recht: "Fang nie mit dem Anfang an, sondern immer drei Meilen vor dem Anfang! Etwa so:  'Meine Damen und meine Herren! Bevor ich zum Thema des heutigen Abends komme, lassen Sie mich Ihnen kurz ...' Hier hast du schon ziemlich alles, was einen schönen Anfang ausmacht: eine steife Anrede; der Anfang vor dem Anfang; die Ankündigung, daß und was du zu sprechen beabsichtigst und das Wörtchen ‘kurz’. So gewinnst du im Nu die Herzen und die Ohren der Zuhörer."