Montag, 24. Januar 2011

5. Von Schachteln und Strudeln

Der folgende Satz stammt nicht von dem berühmten Schachtelbauer Heinrich von Kleist, sondern ist von mir eigens für Sie konstruiert worden: Ein Redetext, der dem Grundsatz, die Möglichkeit des Publikums, dem Redner möglichst ohne Schwierigkeiten und mit Freude zu folgen, zu berücksichtigen, nicht in dem Maße Rechnung trägt, dass der Zuhörer zumindest den roten Faden behält, den die Rede haben sollte, taugt nicht viel. - Ein echtes Monstrum, auch wenn inhaltlich alles stimmt. Man könnte aber viel einfacher sagen: Der Text muss dem Zuhörer leicht ins Ohr und dem Redner leicht von den Lippen gehen. 

Dazu darf man sich getrost über die eine oder andere Regel des Schriftdeutschen hinwegsetzen. "Der Vorschlag, die feste Fehmarnbeltquerung aufzugeben, ist falsch", würde man schriftlich formulieren. Aber zu sprechen und zu verstehen ist leichter: "Der Vorschlag ist falsch, die feste Fehmarnbeltquerung aufzugeben." Oder: "Es gibt den Vorschlag, die feste Fehmarnbeltquerung aufzugeben. Aber er ist falsch." 

Beim Redenschreiben sollte man Informationen nicht schachteln, sondern logisch in eine Reihe bringen. So ist das Publikum zu jeder Zeit auf der Höhe des Gedankens und muss sich nicht zu viel merken, bis irgendwann der Schlüssel zum Verständnis nachgereicht wird. Und der Redner kommt nicht in die missliche Lage zu versuchen, die komplizierte Struktur eines Schachtelsatzes mit melodischen Mitteln kenntlich zu machen. Es wäre jedenfalls gut, wenn der Text nicht dem Redner den Atem raubt, sondern dem Publikum.

Wer als Texter seinen Redner nicht quälen will, dem sei der Selbsttest empfohlen: Die umständlichen Formulierungen, die schiefen Konstruktionen, die Strudel im Gedankenfluss und all die anderen Unebenheiten, die einem beim eiligen Schreiben unterlaufen, können sich nicht mehr verstecken, wenn man Satz für Satz sich selbst vorliest. Die in Schleswig-Holstein lebende Dichterin Sarah Kirsch berichtete einmal, sie lese ihre Entwürfe dem Kasettenrekorder vor und stoße dabei auf die Ungereimtheiten, auch ohne die Aufnahme je wieder abzuspielen. Diese oder ähnliche Methoden in der Schreibstube erleichtern einem Redner das Leben ungemein.