Montag, 27. Februar 2012

32. Vertretungen

Es war die Woche des gesprochenen Wortes. Selten ist eine Veranstaltung so stark beachtet worden wie die Gedenkfeier für die Nazimordopfer am Donnerstag im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Was würde der Staat sagen zu dem Unsäglichen, wie würde er sich bekennen zu dem Unglaublichen, das den Mordopfern und ihren Angehörigen widerfuhr?

Auch aus der Sicht der Redenschreiberei war der Termin ungewöhnlich spannend: Würde es eine Wulff-Rede sein oder eine Merkel-Rede? Als der Bundespräsident ein paar Tage vor seinem wohl heikelsten Auftritt zurücktrat, war sein Redemanuskript sicher schon fertig. Gab es das Bundespräsidialamt an die Kollegen vom Bundeskanzleramt weiter, als Frau Merkel die Rede übernahm?

Es kommt auf allen Ebenen vor, dass ein Redner ausfällt. Mal löst man das Problem wie der König von Hawaii, der als erster ausländischer Ehrengast im Jahre 1874 vor dem amerikanischen Kongress sprechen sollte. Er wurde plötzlich krank und ließ seine Rede von einem Mitarbeiter verlesen. Mal löst man es wie der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2005 von einem fachkundigen Vertreter des nächst niedrigeren Ranges vortragen ließ, nämlich vom Verteidigungsminister. Immerzu trägt irgendwo in Deutschland ein Staatssekretär eine Minister- oder ein Minister eine Ministerpräsidenten-Rede vor. Nur wenn der Termin frühzeitig übertragen wird, wird eine eigene Rede gefertigt und gehalten.

Aber am Donnerstag war alles viel komplizierter, weshalb es zu der einmaligen Konstellation kam: BK springt für BuPrä ein. Der Wulff-Text konnte ja nicht von einem Vertreter verlesen werden, denn Wulff gab es gar nicht mehr. Ebenso verbot sich eine Vertretung nach Schema F; denn der Anlass war politisch zu gravierend für das zweite oder dritte Glied. Insofern war es eine gute Lösung, dass die Bundeskanzlerin das Wort ergriff - vielleicht sogar besser als der ursprüngliche Plan, denn die Regierungschefin verkörpert die verantwortliche Staatsmacht, die sich hier stellen musste, während der Präsident sie nur repräsentiert.

Frau Merkel ergriff die Chance, und wir erlebten eine Bundeskanzlerin in einer rhetorischen Form, die man von ihr nicht mehr erwartet hätte nach all den langweiligen und platten Reden, die sie sonst herunterleierte. Wer immer diesmal den Text entworfen hat - hier sprach eine Bundeskanzlerin, die die richtige Botschaft formulierte und dabei den Ton traf. Es sprach eine Staatsfrau, die ihrer Verantwortung angemessen auftrat, die Anteilnahme und auch Scham so ausdrückte, dass man es ihr glauben konnte. (Von ernsthafter Vorbereitung zeugte auch, dass sie alle türkischen Namen glatt über die Lippen brachte; nur beim Namen Wulff kam es zu einem kleinen Verhaspler.)

Wie gut die Entscheidung von Angela Merkel war, die Sache an sich zu ziehen, zeigte ein anderer Fall in der gleichen Woche. Hier übernahm der offizielle Vertreter des Bundespräsidenten einen Redetermin und auch gleich das für Christian Wulff vorbereitete Manuskript. Der Mitschnitt legt Zweierlei nahe: Vermutlich stammt der Sprechzettel von einem Praktikanten, weil die anderen Redenschreiber mit Wichtigerem wie Gedenk- oder Rücktrittsreden beschäftigt waren. Und der Redner spürte sichtbar, dass das gekünstelte Manuskript nicht zu ihm passte. Er hätte es beiseite legen und für den Rennfahrer Vettel ein paar Sätze aus dem Stehgreif finden müssen.