Montag, 16. Mai 2011

21. Ungehaltene Rede

Referent Olaf D. schreibt: Ich habe für meinen Chef eine Rede verfasst, aber er hat nicht einziges Mal auf das Blatt geschaut. Er hat frei gesprochen, und zwar etwas ganz anderes, als im Manuskript stand. Warum musste ich dann überhaupt einen Entwurf liefern?

Zunächst gratuliere ich Ihnen zu diesem Chef. Er beherrscht das Thema offenbar so, dass er auch ohne Manuskript reden kann. Freie Rede klingt nun einmal besser, da kann das Manuskript noch so gut sein. (Willy Brandt einmal ausgenommen, er konnte wie kein Zweiter vom Blatt ablesen und doch den Eindruck erwecken, als verfertige er den Gedanken beim Reden.)

Es sind viele Gründe denkbar, warum ihr Chef frei gesprochen hat. Vielleicht war er einfach nur besonders gut drauf. Vielleicht hat ein Vorredner etwas vorweg genommen von dem, was im Manuskript stand; oder der Vorredner hat etwas gesagt, das Ihr Chef nicht im Raum stehen lassen wollte. Oder Ihr Chef hat vor Ort gemerkt, dass der Charakter der Veranstaltung ein wenig anders war, als Sie am Schreibtisch antizipierten, und hat deswegen seine Rede spontan angepasst. Oder, oder, oder.

Lieber Olaf D., Ihre Mühe war trotzdem nicht umsonst. Sie sind nun mal kein Dramatiker und Ihr Chef ist nicht der Schauspieler, der Ihr Stück werkgetreu auf die Bühne bringt. Sie sind sein Helfer, Sie erarbeiten nach bestem Wissen und Gewissen einen Redeentwurf, und er nutzt ihn jeweils auf seine Weise - als Vortragstext, als Notfallreserve, als Instruktion, als Inspiration oder auch gar nicht.

Zurück zum konkreten Fall und warum Ihr Text nicht vorgetragen wurde. Hatte Ihr Chef vielleicht Angst, es würde ihm mit dem Manuskript so gehen wie einst dem Schweizer Bundesrat Hans-Rudolf Merz im Berner Parlament? Dann müssten Sie die Qualität Ihrer Texte überprüfen. Aber das glaube ich nicht.

In diesem Sinne - frohes Schaffen!